"Biedermeierstandards"
(...)
Für die Objekte aus seinem Werkzyklus Biedermeier hat der Leipziger
Künstler Alexej Meschtschanow eine eigene Form der Repräsentation
gefunden. Er exponiert sie im wörtlichen Sinne und thematisiert zugleich
ihre Präsentation als einen ambivalenten Akt von Emanzipation (aus
ihrem angestammten Kontext) und Zurschaustellung. Der Statuswechsel dieser
Dinge, von bürgerlichen Möbelstücken zu künstlerischen
Artefakten, unterliegt nicht allein der Definitionsmacht der Institution
Kunst, da sie nicht wirklich als ready-mades behandelt werden. Vielmehr
unterzieht Meschtschanow seine Objekte einem physischen Eingriff, einer
Operation, im Laufe derer den Gegenständen ein mechanisches Korsett
angepasst wird, welches sie leicht vom Boden abhebt. Er vollzieht an ihnen
keine Transformation, keine tief greifende Umwandlung, sondern eine säkulare
Transfiguration, einen Akt der Erhöhung. Die Vorrichtung, mit deren
Hilfe der Bildhauer Alexej Meschtschanow die verschiedenen Möbelstücke
anhebt und aus ihrer irdischen Funktion entlässt, sind einfache Konstruktionen
aus Stahlrohren, die mit weißem Kunststoff überzogen sind. Sie
greifen die Formensprache des jeweiligen Gegenstandes auf und scheinen
sich, trotz ihres entschlossenen Stützgriffs, den Dingen anzuverwandeln.
Um für die künstlerische Geste Meschtschanows eine Erklärung
zu finden, liegt es nahe, auf die Methapher des Korsetts zurückzugreifen:
Dieser Begriff transformiert nach allgemeinem Verständnis die Ambivalenz,
welche die so entstandenen hybriden Skulpturen zum Ausdruck bringen, nämlich
sowohl Stütze wie auch Fesseln zu sein. Doch Meschtschanows Unterbauten
verformen, im Gegensatz zum Korsett, nicht die Körperlichkeit des
Objekts, sie geben allenfalls vor, die frühere Funktionstüchtigkeit
des Möbelstücks in eine moderne, belastbare Konstruktion überführt
zu haben. So erscheint es eher, als ob der im Bereich der Medizin verwendete
Begriff der Prothese (vom griech. Próthesis: Das Hinzufügen,
Ansetzen) besser geeignet wäre, den semantischen Gehalt des künstlerischen
Eingriffs auszuleuchten. Eine Prothese dient als künstliches Element
dazu, verloren gegangene oder hinfällige Glieder des Körpers
zu ersetzen, sie in ihrer früheren Funktion zu repräsentieren.
Da jedoch die exponierten Objekte augenscheinlich keiner Reparatur bedurft
hätten - sie sind nicht immer beschädigt -, bezieht sich die
Diagnose weniger auf die physische Verfassung der Dinge, als viel mehr
auf eine Störung in der symbolischen Ordnung, in der sie aufgehoben
sind.
Was Meschtschanow aus den Kellnern bürgerlicher Vergangenheit auf
die Bühne der Kunst holt - und nichts anderes als eine radikale Geste
des Sockels stellen seine weißen Halterungen dar - sind nicht etwas
nur auratische Gegenstände, die in der Symbiose mit ihrer modernen
Prothetik zu seltsam zeitlosen Zwitterwesen mutieren. Hinter der Originalität
dieser skulpturalen Form wird noch etwas anderes verwandelt: Fürsorglich
vom Boden der Geschichte abgehoben, im festen Schraubgriff fixiert, derart
dingfest gemacht, stellen sie sich als unsere Projektionsfläche zur
Schau: In der Wölbung des Polstersitzes und der geschnitzten Ornamentik
der Stuhllehne werden unsere Versprechen nach einer darin geborgenen, ungebrochenen
Geschichte sichtbar, unsere Sehnsucht nach einer verlorenen Zeit, die in
einer sogenannten Antiquität wie ein Insekt im Bernstein eingeschlossen
zu sein scheint.
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Florian Ebner
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